Wie bereits angedeutet wurde,1 erfuhr Aubanus’ Vorlesung über Pro Rege Deiotaro eine Art Wiederverwertung (man muss es wohl so nennen, auch wenn es etwas nüchtern klingt), nachdem er bereits gestorben war. In einem Fall (im Jahr 1518) gab es eine Vorlesung, die sich im Wortlaut nur geringfügig von Aubanus’ Vorlesung unterschied. Eine der erhaltenen Nachschriften (das Exemplar wurde 1520 gedruckt) steht noch deutlich in Aubanus’ Tradition, ist jedoch schon etwas weiter vom »Original« entfernt.
Es gibt noch weitere Nachschriften, deren Glossen nur an sehr wenigen Stellen mit den Anmerkungen des Aubanus übereinstimmen. Sie sind hier nicht behandelt, sondern werden im Anhang einzeln vorgestellt. Jedoch zeigt sich dadurch, dass eine Art Tradition entstanden war, die letztlich auf diese eine von Aubanus gehaltene Lehrveranstaltung zurückgeht.
Das erste Mal kam es 1518 zu einer Neuauflage der Vorlesung und damit auch des Druckes der Rede. Wieso, lässt sich nicht exakt rekonstruieren, aber offenbar wurde ein Mann namens Laurentius Lyranus auf die Vorlesung aufmerksam und wollte sie auch vor seinen Schülern halten.
Wie er darauf aufmerksam wurde, ist nicht ganz klar. Wir wissen nicht einmal genau, wer Laurentius Lyranus war, da wir nicht mehr Informationen haben als sich aus dem Widmungsbrief des Vorlesungsdruckes von 1518 gewinnen lassen. Deutlich wird daraus lediglich, dass der lateinische Name dieses Mannes Laurentius Lyranus war, dass er aus Cottbus kam und irgendwann einmal von Johannes Rhagius Aesticampianus (1457–1520) unterrichtet wurde. Aesticampianus, der 1511 aus Leipzig wegging, kam 1514 nach Cottbus und eröffnete dort eine Lateinschule.2 Es wäre gut möglich, dass Lyranus ihn von dort kannte. Ob er zwischen 15173 und 15184 an der Universität Wittenberg bei Aesticampianus studiert hat, ist zweifelhaft. In der Wittenberger Matrikel taucht nämlich keine Person auf, die sich Laurentius Lyranus hätte nennen können. Auch finden wir ihn nicht in den Matrikeln der Universitäten Mainz oder Leipzig, wo Aesticampianus ebenfalls unterrichtet hatte.
In den Matrikeln zweier Universitäten, an denen Aesticampianus ebenfalls wirkte, nämlich Frankfurt (Oder) und Köln, gibt es jeweils einen Eintrag, der sich auf diesen Laurentius Lyranus beziehen könnte: In Köln wurde 1510 ein Laurentius de Hortmen de Lyra5 immatrikuliert. Lyra ist die Stadt Lier in Belgien. Es war nicht unüblich, bei der Latinisierung eines Namens einen Nachnamen aus dem Herkunftsort zu bilden. Aesticampianus (»aus Sommerfeld«) und Aubanus (»aus Aub«) etwa verfuhren ebenso. Wenn sich auch nicht sagen lässt, was genau de Hortmen ist, ob ein Familienname oder eine weitere Ortsbezeichnung, so ist es doch nicht undenkbar, dass diese in der Kölner Matrikel genannte Person sich zu irgendeinem Zeitpunkt Laurentius Lyranus genannt haben könnte. Wenn dieser also 1513 Aesticampianus in Köln kennenlernte und im Jahr darauf mit ihm nach Cottbus ging6, so konnte er sich durchaus, sofern Cottbus seine neue Heimat geworden war, zusätzlich Cotbusius7 nennen.
An der Universität Frankfurt (Oder) hat, als Aesticampianus dort lehrte, auch niemand mit dem Namen Laurentius Lyranus studiert oder gelehrt, aber 1532 immatrikulierte sich dort ein magister Laurentius Liranus.8 Es wäre durchaus möglich, dass es sich dabei um denselben Mann handelt, der 1518 über Pro Rege Deiotaro las. Man hat letztlich nicht genug Anhaltspunkte, um zu entscheiden, ob überhaupt zwei oder gar alle drei der genannten »Lyrani« identisch sind oder ob es sich um verschiedene Personen handelt. Die Identität aller drei ist jedoch sehr wahrscheinlich. Wenngleich die Matrikel der Universität Köln mehrere Personen aus Lier (Belgien) führt, taucht diese Stadt oder der Name Lyranus (Liranus) in den Matrikeln der mitteldeutschen Universitäten äußerst selten und in der fraglichen Zeitspanne auch nicht in Kombination mit anderen Vornamen auf.
Man kann bestenfalls spekulieren, wie Lyranus dazu kam, die Vorlesung zu halten. Dass er sie einst bei Aubanus gehört hatte, ist zwar nicht unmöglich, aber eher unwahrscheinlich, da eine Passage im Widmungsbrief des Vorlesungsdruckes darauf hinzudeuten scheint, dass Aesticampianus der Vermittler war: … decreui exercitationis gratia aliquid in medium afferre quod ex te quasi singulare quiddam audierim, quod exactam eloquendi peritiam demonstraret.9 Ob er allerdings Lyranus lediglich von den Cicerovorlesungen an der Universität Leipzig erzählte oder ob er selbst eine ähnlich aufgebaute Lehrveranstaltung abhielt, die Lyranus besuchte, geht daraus nicht hervor. Eine Nachschrift der Vorlesung Pro Rege Deiotaro könnte Lyranus entweder käuflich erworben oder von einem der damaligen Vorlesungsbesucher geliehen haben. Woher er diesen gekannt haben mag, bleibt verborgen. Vielleicht über Aesticampianus?
Was wir ebensowenig mit letzter Gewissheit sagen können, ist, wie sich Lyranus’ Hörerschaft zusammensetzte. Unterrichtete er etwa an einer Lateinschule in Cottbus und hielt eine solche Vorlesung dort? Wahrscheinlich nicht. Die Zielgruppe dürfte doch etwas fortgeschrittener gewesen sein als der durchschnittliche Besucher einer Lateinschule, zeigt doch Aubanus’ Vorlesung, obgleich sie teilweise sehr elementar wirkt, deutlich auch einen wissenschaftlichen Anspruch. Wir können Lyranus weder an der Universität Leipzig noch an der Universität Wittenberg nachweisen, und leider können wir auch die Matrikeln nicht nach den Annotatoren, die seine Vorlesung hörten, durchsuchen: Wir kennen ihre Namen nicht. Den Widmungsbrief im Vorlesungsdruck aber hat Lyranus nach eigenen Angaben in Wittenberg10 verfasst. Daher möchte man annehmen, dass er 1518 an der Universität Wittenberg oder vielleicht an der Universität Leipzig unterrichtete. Beweise dafür fehlen allerdings. Es ist besonders seltsam, dass ein Dozent an einer Universität, mag er auch außerhalb der Fakultät gestanden haben,11 nicht in der Matrikel und auch in sonstigen Dokumenten nicht in Erscheinung tritt.
Darüber, dass es sich bei Lyranus’ Vorlesung eigentlich um Aubanus’ Vorlesung handelt, besteht aufgrund des hohen Grades der wörtlichen Übereinstimmung überhaupt kein Zweifel. Hätten wir nicht die nachweislich späteren Drucke und mehr als eine Nachschrift dieser zweiten Vorlesung, dann fiele es sogar ausgesprochen schwer, die Existenz einer zweiten Vorlesung zu beweisen. So könnte man viele Abweichungen im Glossentext, kämen sie nur in einem Exemplar vor, als Eigenheit eines bestimmten Schreibers ansehen, und solche Abweichungen zeigen sich an der einen oder anderen Stelle in allen Nachschriften. Man kann sie in vier Kategorien einteilen: Fehlende Glossen, Sondergut, veränderter Wortlaut und versetzte Glossen.
Da von der Auswahl der Schreiber abhing, was in der Vorlesung aufgeschrieben wurde, ist ganz unvermeidbar, dass Glossen in Nachschriften fehlen, wo sie in anderen Nachschriften vorhanden sind, und umgekehrt auch, dass es Glossen in einer Nachschrift gibt, die sich sonst in keinem anderen Exemplar finden; beides kann natürlich auch Teile von Glossen betreffen, was dann vielleicht schon in die dritte Kategorie (veränderter Wortlaut) fällt.
An der Glosse zu A2r 15, 3 impietate (Impium enim est et scelus maximum a nepote auum iniuste accusari) beispielsweise lässt sich ein geringer Unterschied im Wortlaut beobachten: so haben die Schreiber der Exemplare O und T Wörter umgestellt und schreiben auum a nepote statt a nepote auum.12 Eine ebenfalls milde Form der Veränderung liegt bei der Glosse zu A2v 4, 5 ff. vor, in der die Schreiber der Exemplare O, Q und T causam addit quare … schreiben anstatt causam subiungit quare …, wie die anderen Schreiber.
Auffälliger ist wiederum, wenn Glossen versetzt werden, wie es Lyranus getan zu haben scheint. Aubanus diktierte eine Erklärung zu A3v 19, 12 Tyrannus, die in Lyranus’ Vorlesung offenbar erst bei B2r 26, 1 Tyrannum vorkam. Der Wortlaut ist jedoch – abgesehen davon, dass das Wort aperte in Exemplar O fehlt13 – identisch:
Exemplar C (Aubanus) zu A3v 19, 12
Tyranni nomen apud antiquos honestum fuit vt hodie regis, sed posterioribus annis infamatum est auctore Donato super hoc Virgiliano pars mihi pacis erit dextram tetigisse tyranni. quam differentiam aperte hoc loco Cicero indicat.
Exemplar O (Lyranus) zu B2r 26, 1
Tyranni nomen apud antiquos honestum fuit vt hodie regis, sed posteri<ori>bus annis infamatum est auct: Donato hoc Vergiliano pars mihi pacis erit dextram tetigisse tyranni. quam differentiam hoc loco Cicero indicat.
Speziell diese Beobachtung am Text der Nachschriften und die anderen auffälligeren Unterschiede wie fehlende Glossen oder Sondergut und selbstverständlich vor allem die Häufung des Auftretens von Abweichungen an jeweils derselben Stelle in immer den gleichen Exemplaren zeugen demnach ebenso von der Existenz einer zweiten Vorlesung wie der spätere Druck der Rede Pro Rege Deiotaro. Für die Zuordnung der Nachschriften zur einen oder anderen Vorlesung sind sogar allein sie maßgeblich, hat sich doch gezeigt, dass eben Exemplar Q, 1515 gedruckt, eine Nachschrift der späteren Vorlesung enthält, während Exemplar L, 1518 gedruckt, offenbar die Abschrift einer Nachschrift der früheren Vorlesung ist. Hieraus lässt sich übrigens erkennen, dass die Auflage beider Drucke so groß war, dass jeweils Exemplare übrigblieben und anderweitig verwendet werden konnten. Während es nicht ungewöhnlich scheint, Lyranus’ Vorlesung in einem der älteren Drucke dokumentiert zu finden, ist die Konstellation, dass ein Druck von 1518 Aubanus’ Vorlesung enthält, sicher etwas überraschender. Der Schreiber des Exemplars L hat die Anmerkungen, darüber informiert er uns selbst14, im Jahr 1519 eingetragen, und zwar offensichtlich nach einer älteren Vorlage. Die beiden anderen Drucke von 1518, die Exemplare O und T, lassen sich aber tatsächlich als Nachschriften der späteren Vorlesung identifizieren, so dass diese uns also in drei Nachschriften (O, Q und T) überliefert ist. Wer die Annotatoren waren, ist leider nicht bekannt, da keiner von ihnen einen Namenseintrag in dem von ihm annotierten Druck hinterlassen hat.
Bei allen vorhandenen Abweichungen sind die Übereinstimmungen zwischen den Anmerkungen beider Vorlesungen aber immer noch erstaunlich groß. Man muss sicher davon ausgehen, dass Lyranus die Vorlesung des Aubanus in Form einer Nachschrift von 1515 vorlag und er sie abänderte, d. h. auch Anmerkungen erweiterte, verkürzte, ausließ, versetzte oder neue hinzufügte, aber eben nur an einigen Stellen. Es ist allerdings interessant, dass Aubanus in dem Druck mit keinem Wort erwähnt wird.15 Natürlich kann man nachvollziehen, warum der Widmungsbrief gegen einen aktuellen ausgetauscht wurde. Hier wollte der Dozent freilich persönlich zu Wort kommen. Lyranus hätte aber auch erwähnen können, dass die Vorlesung schon einmal gehalten wurde, oder mindestens, dass der Druck ein Nachdruck war, in dem einige Fehler korrigiert wurden. Aber er schweigt sich in dem Brief darüber aus. Dennoch scheint er sich dessen bewusst gewesen zu sein, woher die Vorlesung stammte und nannte Aubanus in der Glosse zu B1v 10, 1 defecerant. Er hat dabei, wie es scheint, diese Glosse gegenüber dem Original seltsam verändert:
Exemplar G (Aubanus)
Etsi exemplaria quae hactenus vidi nullam habeant negationem ego tamen et quia ita patitur et longe nitidior est sensus addendam iudico. haec Aubanus.
Exemplar O (Lyranus)
Etsi exemplaria quae hactenus vidi nullam habeant negationem Aubanus tamen et quia ita patitur et longe nitidior est sensus addendam putavit.
Da die Hörer der ersten Vorlesung aufschrieben, was Aubanus von seinen Forschungen berichtete, blieben sie in der ersten Person (vidi – ego tamen … iudico). Lyranus veränderte die Anmerkung nur im zweiten Teil (was eben ein wenig merkwürdig anmutet), vielleicht weil er auszudrücken versuchte, dass er die Lesarten in anderen Texten auch selbst überprüft hatte (vidi), dass es aber ein anderer, nämlich Aubanus war, der die Konjektur vorschlug (Aubanus tamen … putauit). Er zitierte demnach Aubanus als Autorität zu einem bestimmten Problem, aber wohl nicht als Urheber der Vorlesung. Zwar ist nicht völlig auszuschließen, dass er ihn in dieser Funktion erwähnte, aber man würde doch erwarten, in einem der betreffenden Exemplare einen entsprechenden Hinweis in der Nachschrift zu finden, auch wenn wir nur drei Nachschriften dieser Vorlesung haben.
Warum nun ausgerechnet die Vorlesung über diese Rede eine Wiederbelebung erfuhr und nicht die zu einer der anderen Reden, lässt sich nicht ermitteln. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass die Rede so kurz und daher in einem Semester gut zu bewältigen war, das würde jedoch Pro Ligario etwa ebenfalls geeignet erscheinen lassen. Vielleicht gab es andere gute Gründe für die Auswahl der Rede, das wissen wir nicht; dann stieß sie womöglich deshalb auch weiterhin auf besonderes Interesse. Vielleicht ist Lyranus’ Entscheidung, über Pro Rege Deiotaro zu lesen, aber auch einem Zufall zu verdanken, dann müsste man davon ausgehen, dass allein diese Entscheidung der Rede in den folgenden Jahren zu relativ großer Popularität verhalf. Denn Lyranus war, so scheint es, nicht der einzige, der die Rede nach Aubanus’ Tod noch einmal drucken ließ und/oder sie erklärte, wovon die weiteren Drucke zeugen, die uns erhalten sind.
Das Exemplar des Druckes Pro Rege Deiotaro 1520 hat in zweierlei Hinsicht einen Sonderstatus. Zum einen gibt es in dem Druck keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass jemand über die Rede las. In den früheren Drucken hingegen war das ganz evident: Aubanus berichtet im Widmungsbrief ausführlich über seine Vorlesungspraxis und spricht eindeutig seine Studenten an, Tulichius’ Gedicht ist explizit »den deutschen Studenten der schönen Künste« (Germanae iuuentuti bonarum artium studiosae16) gewidmet. Das gilt auch noch für den Druck von 1518, wo Lyranus in seinem Brief17 an Aesticampianus über seine Lehrtätigkeit spricht und im angeschlossenen Epigramm mit studiosa iuuentus (Z. 1) sicher niemand anderen als seine Studenten meint. Im Druck von 1520 jedoch gibt es nur ein kurzes Widmungsepigramm18, und darin ist eben nicht explizit eine Gruppe von Studenten angesprochen: ad candidum lectorem klingt sehr allgemein.
Zum anderen ist das uns bekannte Exemplar das einzige seiner Art. Das Fehlen von Vergleichsexemplaren macht es natürlich zusätzlich schwer zu beurteilen, ob 1520 eine Vorlesung stattfand. Man kann es ebensowenig beweisen wie widerlegen. Für das Stattfinden einer Vorlesung generell spricht eigentlich nur die Tatsache, dass es sich bei dem Druck eben zweiffellos um einen Vorlesungsdruck mit breitem Rand und großem Zeilenabstand handelt. Es wäre jedoch auch denkbar, dass jemand den Einfall hatte, solche Drucke für private Kommentierung herzustellen. Aber selbst wenn doch eine Vorlesung stattfand, heißt das noch nicht, dass wir sie in unserem Exemplar E wiederfinden. Die Annotationen könnten irgendwo abgeschrieben und die Annotationslücke kann auch auf eine Lücke in einer Vorlage zurückzuführen sein.
Es bleibt daher völlig offen, wie die Kommentierung in diesem Exemplar entstand und welche Rolle Bergellanus, der Verfasser des Widmungsepigramms, dabei spielte. Dennoch ist deutlich erkennbar, dass – in welcher Form auch immer – Aubanus’ Vorlesung als Vorlage gedient haben muss.19
Wir wissen fast nichts über Johannes Arnold. Er kam aus Marktbergel in Mittelfranken (daher »Bergellanus«). Im Sommersemester 1515 immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig und wurde dort im Sommersemester 1517 zum Baccalaureus promoviert.20 Es ist möglich, dass er einer derjenigen war, die die Vorlesung Pro Rege Deiotaro bei Aubanus persönlich hörten.
Im Jahr 1520 war er offenbar noch in Leipzig und steuerte ein Widmungsgedicht zu dem im selben Jahr hergestellten Vorlesungsdruck Pro Rege Deiotaro bei. In welcher Form er noch an der Herausgabe dieses Druckes beteiligt gewesen sein mag, lässt sich nicht feststellen, ebensowenig wie seine Beteiligung an der Vorlesung, wenn es denn eine gab.
Bevor Bergellanus nach Mainz ging und dort – vermutlich als Korrektor – für den Drucker Franz Behem21 arbeitete,22 übte er im Hause Lotter zu Beginn der 1520er Jahre eine ähnliche Tätigkeit aus.23 Im Jahr 1541 veröffentlichte er bei Behem ein über 400 Verse langes lateinisches Gedicht mit dem Titel De chalcographiae inuentione24, das von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern handelte.25
Wie bereits dargelegt, kann man nicht bestimmen, in welchem Kontext die Annotationen in Exemplar E entstanden. Übereinstimmungen mit Aubanus’ Vorlesung sind jedoch durchaus vorhanden, und zwar in dem Maße, dass die Nachschrift in der Edition berücksichtigt werden musste. Dennoch sind sie bei weitem nicht so genau wie die Übereinstimmungen zwischen Aubanus’ und Lyranus’ Vorlesungen.
Dabei ist der Befund im Bereich der Interlinearglossen noch relativ unauffällig. Natürlich gibt es auch hier Abweichungen; diese gehen aber nie über das gewöhnliche Maß hinaus, d. h. ähnliche Abweichungen sind sogar zwischen einzelnen Exemplaren derselben Vorlesung immer zu erwarten. Es spielt hier etwa eine Rolle, wie dicht die interlineare Kommentierung ist. Exemplar O beispielsweise fällt in dieser Hinsicht viel mehr aus dem Rahmen als Exemplar E. Sondergut findet sich zudem in jedem der anderen Exemplare gewiss nicht weniger als in diesem.
Deutlicher sind die Unterschiede bei den Marginalglossen. Oft hat der Annotator Anmerkungen aufgeschrieben, die in keinem anderen Exemplar zu finden sind. Auch fehlen Glossen, die in allen anderen Exemplaren (gleich welcher Vorlesung) vorhanden sind. Offensichtlich hat an vielen Stellen eine Art Redaktion stattgefunden. Bemerkbar macht sich dies auch dort, wo Glossen verkürzt wurden, wie es etwa in der ersten großen Marginalglosse zum Text geschehen ist:
Aubanus (Exemplar M) zu A2r 1, 1 ff.
Modum in principiis conficiendis pro causarum qualitatibus et condicionibus adhiberi oportere Quintilianus in 1 in primis auctor est Cum enim simplices sunt cause breuioribus vtendum erit exordiis. Cum vero suspecte perplexe et infames longiora desiderantur prohemia et quoniam huius cause et propter accusacionem turpem et accusati honestatem dubium genus fuerat maxime auditoris Cesaris beneuolenciam captari oportuit. ne illa turpitudinis suspicio Cesaris animum abalienatum redderet. et quia idem Cesar et auditor erat et iudex longissimo accuratissimoque principio opus fuisse constat quale hoc esse cum interpretabimur sencietis
Exemplar E zu A2r 1, 1 ff.
Modum in principii[s] conficiendis pro causarum qualitate adhiberi opo[r]tere Fabius in 3 auctor est cum enim simplices sunt cause breuioribus vtendum erit exordiis cum vero suspecte, perplexe et infames, longiora desiderantur prohemia vt hic licet perspicere variis enim racionibus Caesarem non modo iudicem, sed cui periculum ipsum imminebat beneuolum sibi reddere studet vnde longissimo ac accuratissimo opus est exordio.
Hier ist die Verbindung zu Aubanus’ Text ganz deutlich. Sogar in dem Satz Cum enim simplices sunt causae … bietet Exemplar E noch den Wortlaut der alten Vorlesung, wo Quintilian selbst sich viel knapper ausdrückt.26 Erst danach weicht der Annotator im Wortlaut ab – nicht thematisch, aber man merkt, dass hier jemand nicht etwa spontan umformuliert, sondern ganz neu Hand angelegt hat.
Welche Vorlesung als Quelle für den Annotator 1520 diente (ob nun zur privaten Abschrift oder als gehörte Vorlesung), lässt sich nicht genau sagen. Es gibt zwar Stellen, an denen in den Exemplaren, die man Lyranus’ Vorlesung zuordnen muss (O, Q und T), keine Glosse zu finden ist, während Exemplar E dieselbe Glosse aufweist wie die Nachschriften der ursprünglichen Vorlesung (Aubanus),27 man muss jedoch damit rechnen, dass auch drei Nachschriften im Einzelfall unter Umständen nicht repräsentativ für die Vorlesung sind, in deren Kontext sie entstanden.
Eine Glosse, die für die Vorlesung von 1518 deutlich den Anschluss an Aubanus’ Kommentar zeigte, nämlich die, in der dieser namentlich erwähnt wird,28 fehlt in diesem Exemplar ganz. Dafür hat sich aber ein Fehler aus der Vorlesung 1515 bis in dieses Exemplar fortgesetzt, der vermutlich auf einem Missverständnis von Seiten des Aubanus beruht:
In der Glosse zu A3r 15, 2 Consulares heißt es: Consulares qui consulatum gesserunt vel vt alii volunt qui consulatu digni sunt. Dissentiunt enim Vale: et Mancinel:29 Die zweite Definition (qui consulatu digni sunt) ist schlicht falsch. Wenn man aber überprüft, was genau Mancinelli zu consularis sagt, wird man die Möglichkeit einräumen müssen, dass Aubanus ihn nicht richtig verstanden hatte. Im Summae declinationis lexicon steht: in ul30 tertiae declinationis. Consul qui consulatum gerit. Consularis qui consulatum gessit, et consulatu dignus. Cicero pro Milone Tribunum virtute consularem.31 Die Lesart virtute bei Mancinelli scheint von einer fehlerhaften Vorlage32 herzurühren, denn hätte er virtutem consularem im Text vorgefunden, hätte er sicher keinen Grund gehabt, Tribunum in das Zitat aufzunehmen. Was aber diese zweifelhafte Definition von consularis anbelangt, ist es m. E. wahrscheinlich, dass Mancinelli sich dabei gar nicht auf consularis als Ehrentitel bezog, sondern einfach das Adjektiv consularis zu umschreiben versuchte. Das Missverständnis lag nun darin, dass Aubanus die Erklärung dagegen sehr wohl auf den Ehrentitel bezog und sie daher an dieser Stelle der Rede Pro Rege Deiotaro, wo wirklich ausschließlich von ehemaligen Konsuln die Rede ist, mit anführte. Bereits Lyranus bemerkte diesen Fehler nicht, und auch der Annotator hier (oder seine Vorlage) übernahm ihn: … Consulares qui functi sunt dignitati magist consulari et qui digni visi sunt huius ordinis.
Letztlich kann man, auch wenn die Annotation in Exemplar E oftmals von der in den anderen Exemplaren abweicht, doch die Verbindung zu Aubanus’ Vorlesung nicht leugnen. Leider können wir das Entstehen der Veränderungen nicht im einzelnen rekonstruieren, und vieles, sogar die Entstehungsgeschichte des Druckes, bleibt uns verborgen. Allerdings haben wir in dem Exemplar ein eindrucksvolles Dokument dafür, dass selbst Jahre nach Aubanus’ Tod seine Arbeit in Fachkreisen immer noch auf Interesse stieß.