Da die vorliegende Arbeit lediglich ein Teil der Darstellung ist, die zum Abschluss des DFG-Forschungsprojektes Cicerovorlesungen an der Universität Leipzig um 1515 veröffentlicht werden wird, sei zunächst dieses Projekt in seinen Grundzügen beschrieben, soweit es für das Verständnis dieser Arbeit erforderlich ist.1
Gegenstand der von 2006 bis 2010 an der Universität Tübingen durchgeführten Forschungen waren Leipziger Drucke vom Beginn des 16. Jahrhunderts, die zu einem speziellen Zweck hergestellt wurden.2 Sie sind mit einem breiten Rand und mit großem Zeilenabstand gesetzt und dienten so den damaligen Studenten der Universität Leipzig in Lateinvorlesungen nicht nur als Textausgaben, sondern gleichzeitig auch als Schreibhefte. Alle Erklärungen zum Text, die vom Dozenten diktiert wurden, konnte man direkt an der entsprechenden Stelle in den Druck eintragen.
Besonders häufig wurden offenbar Texte Ciceros gedruckt, von denen zuvor keine Drucke in Deutschland hergestellt worden waren, vor allem Reden wie Pro Marcello, Pro Ligario, Pro Rege Deiotaro, Pro Flacco, In Pisonem oder die pseudociceronische Rede In Valerium3.4 Die Drucke scheinen vornehmlich von zwei bestimmten Dozenten der Universität Leipzig in Auftrag gegeben worden zu sein: Johannes Lange (1485–1561), der eher als Arzt denn als Humanist bekannt ist, und Gregorius Coelius Aubanus (∼ um 1490–1517), d. h. einem Gregor Koel aus Aub in Franken, der bisher so gut wie unbekannt war.5 Beide Personen sind über die Vorlesungsdrucke als Vorlesende belegt, etwa in Widmungsbriefen oder sogar auch in Annotationen6.
Diese Cicerodrucke sind in überraschend großer Zahl erhalten. Von einigen kennen wir sogar 10–20 Exemplare. Dass so viele Drucke derart geringen Umfangs – gerade die Drucke der kürzeren Reden umfassen nicht einmal zehn Blätter – die Jahrhunderte weitgehend unbeschadet überdauern konnten, liegt sicher daran, dass sie sehr oft zusammen mit anderen Vorlesungsdrucken in Sammelbänden überliefert sind: Wer es sich leisten konnte – und offenbar konnten das viele der Vorlesungsbesucher –, ließ die einzelnen Faszikel zu einem Buch zusammenbinden und hatte damit eine nützliche Sammlung von Textausgaben mit Kommentar.7
Nicht alle erhaltenen Drucke sind mit handschriftlichen Anmerkungen versehen, aber zum großen Teil tragen sie sogar recht dichte Annotationen. Was noch erstaunlicher ist: Die Annotationen in verschiedenen Exemplaren stimmen in hohem Maße, sogar meist wortwörtlich miteinander überein, manchmal in allen (unter Umständen eben 10–20) Exemplaren.
Dies ermöglicht einen recht guten Einblick in die Wissensvermittlung, wie sie in den Vorlesungen damals stattfand. Eingangs wurde schon erwähnt, dass die einzelnen Erklärungen zum Text nach Diktat niedergeschrieben wurden. Das ist bereits eine Erkenntnis, die man aus dem Vergleich der einzelnen Exemplare einer Vorlesung gewinnen kann; der hohe Grad der Übereinstimmung der Annotationen lässt kaum einen anderen Schluss zu. Darüberhinaus kann man anhand der Nachschriften natürlich überprüfen, wie die Studenten mit den Informationen, die sie in der Vorlesung erhielten, umgingen, wie sie sie ordneten und schriftlich fixierten.
Des Weiteren ist freilich der Inhalt der Vorlesungen von Interesse. Da die Annotationen so stark übereinstimmen, darf man sicher davon ausgehen, dass er ausreichend dokumentiert ist, d. h. dass uns die Nachschriften Aufschluss über die Arbeitsweise und Zielsetzung, vielleicht darf man sogar ganz vorsichtig sagen: das Bildungskonzept des Dozenten geben können.
All dies galt es also näher zu untersuchen. Während nun die Fülle des zur Verfügung stehenden Materials keine umfassende Analyse aller Vorlesungsnachschriften im Rahmen des Forschungsprojektes erlaubte, schien jedoch eine exemplarische Studie zu einer einzigen Vorlesung durchaus möglich. Die Vorgabe war, zuerst eine Vorlesung als Grundlage für die Untersuchung zu bestimmen, dann die ausgewählten Nachschriften zunächst vollständig zu transkribieren und anschließend zu edieren, um sie auf diese Weise leichter miteinander vergleichen und die Untersuchungsergebnisse besser dokumentieren zu können, aber auch um den Text der Annotationen für weitere Forschungen allgemein zugänglich zu machen.
Als Ergebnis der Studie liegen nun eine elektronische Edition und diese Einführung vor.
Da das Material quantitativ zu bewältigen sein musste, kam nur eine Vorlesung über eine der kürzeren Reden für eine Edition in Frage. Dabei lagen von Pro Rege Deiotaro und Pro Ligario jeweils die meisten Exemplare vor, deren Annotationen übereinstimmten, so dass diese beiden Reden sich am besten für die Studie zu eignen schienen. Beide Vorlesungen wurden von Gregorius Coelius Aubanus gehalten.
Die Entscheidung für die eine oder andere Vorlesung hätte also ganz willkürlich fallen können. Bei Pro Rege Deiotaro kam aber noch ein Aspekt hinzu, der eine genauere Untersuchung in besonderem Maße rechtfertigte, nämlich die unterschiedliche Datierung der Drucke: Die meisten uns erhaltenen Exemplare dieser Rede wurden 1515 gedruckt, jedoch waren uns auch drei Drucke von 15188 und ein Druck von 15209 bekannt. Da die jüngeren Drucke jeweils aus einem Jahr stammten, in dem Aubanus sicher nicht mehr am Leben war,10 die Annotationen in den späteren Exemplaren aber – das war bereits nach einer oberflächlichen Sichtung klar – mit denen aus den 1515er Drucken übereinstimmten, musste die Vorlesung in irgendeiner Form nachgewirkt haben.11 Eine solche Konstellation besteht sonst für keine der anderen Vorlesungen, ist aber selbstverständlich sehr interessant, und daher schien Pro Rege Deiotaro besonders geeignet zur näheren Betrachtung.
Wir kennen insgesamt 18 Drucke dieser Rede, deren Annotationen übereinstimmen. Davon stammen 14 aus dem Jahr 1515, drei aus dem Jahr 1518 und einer aus dem Jahr 1520. Es gibt noch vier weitere annotierte Drucke von 1518 und einen von 1522, deren Anmerkungen aber mit denen aus Aubanus’ Vorlesung kaum wortwörtliche Übereinstimmungen aufweisen. Sie sind daher in der Edition selbst nicht berücksichtigt, werden aber kurz in Anhang B. Die übrigen Vorlesungsdrucke vorgestellt.
Wie bereits angedeutet wurde, setzt sich diese Arbeit aus zwei Teilen zusammen. Einer davon ist die eigentliche Edition12, die als Computeranwendung vorliegt und in der der Text aller ausgewählten Nachschriften dokumentiert ist. Der andere ist dieser kommentierende Teil, der Informationen enthält, die auf die Nutzung der Edition vorbereiten sollen.
Hier werden zunächst die Drucke und die verschiedenen Nachschriften vorgestellt. Dann wird der Text der Annotationen in zweifacher Hinsicht ausgewertet: Zum einen versuche ich zu erschließen, was Aubanus in seiner Vorlesung vermitteln wollte, zum anderen zeige ich, wie seine Studenten damit umgingen, d. h. ich lege dar, was man in welcher Form in den Nachschriften findet und wie es zu deuten ist. Darauf folgt ein Kapitel über die Nachwirkung der Vorlesung des Coelius Aubanus, in dem die Exemplare von 1518 und 1520 näher betrachtet werden. Da ein Überblick über all diese Teile der Studie nötig ist, um den Aufbau der Edition nachvollziehen und sich in ihr zurechtfinden zu können, wird sie erst im Kapitel darauf behandelt.
Im Anhang schließlich findet sich die Beschreibung und Auswertung eines Vorlesungs-Experimentes, das ich mit Hilfe einiger Studenten der Universität Tübingen durchführen konnte. Außerdem werden die Nachschriften, deren Annotationen keine Übereinstimmungen mit Aubanus’ Vorlesung aufweisen, hier kurz vorgestellt. Zudem sind zwei Referenzteile beigefügt, die eine Übersicht über die in der Arbeit genannten Personen und die relevanten Sammelbände bieten. Beides wird zwar Teil der Monographie zum Forschungsprojekt sein, der die vorliegende Arbeit gewissermaßen zugehört. Aber aus dem Umstand, dass diese Arbeit nun in anderer Form publiziert ist als ursprünglich beabsichtigt, ergeben sich einige Schwierigkeiten: Es werden hier und da Personen erwähnt, die mit der hier edierten Vorlesung nichts oder nur entfernt zu tun haben, auf die näher einzugehen den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen würde. Daher finden sich Daten zu diesen Personen in der Übersicht im Anhang. Diese hat sich als so nützlich erwiesen, dass auch die anderen Personen mit aufgenommen wurden, obgleich sie im Hauptteil ausführlich vorgestellt werden: die Dozenten, die eine Vorlesung zu Pro Rege Deiotaro hielten, mit den Vorlesungen, die Annotatoren der Drucke jeweils mit den Exemplarbeschreibungen.
Inkunabeln werden hier für gewöhnlich nicht mit Titel zitiert, sondern mit ihrer Nummer im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) bezeichnet. Die Vorlesungsdrucke werden im fortlaufenden Text mit Titel und ggf. Erscheinungsjahr genannt. Andere frühe Drucke, aus denen zitiert wird, werden wie die übrige Sekundärliteratur behandelt. Alle sind jedoch im Literaturverzeichnis mit einer vollständigen bibliographischen Angabe aufgeführt, die auch die Nummer enthält, unter der sie im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) zu finden sind.
Die Angabe der Stellen in Vorlesungsdrucken erfolgt in der Reihenfolge: Lagensignatur, Zeilenzahl, Wortzahl (bezogen auf die Zeile), ggf. Wort. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Worttrennung das getrennte Wort immer der folgenden Zeile zugerechnet wird.
Eine Schwierigkeit betrifft das Material der Studie. Wir können den Status der verschiedenen annotierten Drucke nicht bestimmen, also nicht mit Sicherheit feststellen, ob es sich jeweils um eine Mitschrift oder um eine Abschrift handelt. Das Wort Nachschrift schien jedoch geeignet, beides zu beschreiben und wird daher in dieser Arbeit als neutraler Begriff gebraucht.
Auch sei darauf hingewiesen, dass hier sämtlicher Text aus den Drucken oder den Nachschriften so zitiert wird, wie er dort steht, so dass er manchmal Unterschiede zur heute geläufigen Orthographie und Zeichensetzung aufweist. In der Edition selbst ist die Orthographie dort, wo mehrere Exemplare gleiche Glossen aufweisen, allerdings vereinheitlicht, es wird also z. B. stets nach geläufiger Orthographie ae geschrieben, wo mancher Annotator ę oder gar e verwendet. Die Zusammenfassung der Glossen dient dazu, die Gemeinsamkeiten zwischen den Exemplaren besser erkennen zu lassen, was bei einer so großen Zahl (18) nicht anders zu bewerkstelligen ist. Dies betrifft allerdings nur einen Teil der Interlinearglossen13 und ist m. E. ein geringer Preis für die bessere Zusammenschau dieser Glossen, zumal die Orthographie als Eigenheit der verschiedenen Annotatoren ohnehin in den Exemplarbeschreibungen behandelt wird und so leicht erschlossen werden kann, sollte es nötig sein.
Die Edition enthält Links zu im WWW frei zugänglichen Digitalisaten der Drucke bzw. wurde in einigen Fällen speziell für die vorliegende Arbeit eine Publikationsgenehmigung der Bilder eines Druckes erteilt, so dass die meisten Drucke im Original betrachtet werden können. Hierbei ist zu beachten, dass für den Inhalt externer Internetseiten, auf die in der Edition verlinkt wird, deren Betreiber verantwortlich sind.
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