Wie bereits erwähnt wurde, gab es verschiedene Auflagen des Vorlesungsdrucks. Ursprünglich 1515 nach Auftrag von Gregorius Coelius Aubanus gedruckt, wurde die Rede Pro Rege Deiotaro 1518 (hier war der Auftraggeber Laurentius Lyranus), 1520 und 1522 erneut gedruckt. Für die beiden letzten Drucke lassen sich die Auftraggeber nicht sicher ermitteln. Die folgende Übersicht umfasst die Druckausgaben, in denen die in der Edition berücksichtigten Nachschriften überliefert sind. Der Druck von 1522 wird daher erst in Kapitel 5 behandelt.
Titel: | Marci Tullii Ciceronis pro Rege Deiotaro Oratio. |
Druckort: | Leipzig |
Drucker: | Melchior Lotter d. Ä. |
Format: | 2º |
Blätter: | 7 |
VD 16: | C 3611 |
enthält: | Hermann Tulichius, Epigramm (A1r); Gregorius Coelius Aubanus, Brief an die Leser (B3v); Text (A2r–B3v) |
Exemplare: | 14 (A B C G H M N P Q R S U W Z) |
Titel: | Marci Tullii Ciceronis pro Rege Deiotaro Oratio. |
Druckort: | Leipzig |
Drucker: | Melchior Lotter d. Ä. |
Format: | 2º |
Blätter: | 7 |
VD 16: | ZV 3441 |
enthält: | Hermann Tulichius, Epigramm (A1r); Laurentius Lyranus, Brief an Johannes Rhagius Aesticampianus (A1v) mit Epigramm an die Leser; Text (A2r–B3v) |
Exemplare: | 3 (L O T) |
Titel: | Marci Tullii Ciceronis pro Rege Deiotaro Oratio (mit Titeleinfassung) |
Druckort: | Leipzig |
Drucker: | Melchior Lotter d. Ä. |
Format: | 4º |
Blätter: | 11 |
VD 16: | ZV 16654 |
enthält: | Johannes Arnoldus Bergellanus, Epigramm (A1r); Text (A2r–C3v) |
Exemplare: | 1 (E) |
Anders als im Falle der pseudociceronischen Rede In Valerium1, deren Druckvorlage sich schon durch Lücken im Text einwandfrei als GW 6771 identifizieren lässt,2 ist es für die übrigen Reden schwieriger, eine Vorlage nachzuweisen. Die Vorlesung über In Valerium wurde von Johannes Lange gehalten, die Vorlesungen über die anderen Reden von Gregorius Coelius Aubanus, d. h. man muss damit rechnen, dass für die übrigen Drucke (also auch Pro Rege Deiotaro 1515) ein anderer Text als der aus GW 6771 als Vorlage diente.
Günstig ist allerdings der Umstand, dass es sich bei dem Druck In Pisonem 1516 um eine Art kritische Ausgabe handelt. Dort sind am Rand Textvarianten abgedruckt, woraus sich sofort erkennen lässt, dass Hermann Tulichius (1486–1540) für die Herausgabe der Rede neben der ihm zur Verfügung stehenden Textvorlage einen weiteren Text konsultiert hatte, wie er im übrigen in einer Notiz an den Leser am Ende des Druckes andeutete.3 Dabei, so muss man Tulichius' Anmerkung verstehen, richtet sich der Haupttext nach der Vorlage, die ihm Aubanus für die Herstellung des Druckes überlassen hatte. Diese eine Vorlage dürfte sicher für alle von Aubanus in Auftrag gegebenen Vorlesungsdrucke benutzt worden sein. Der Druck In Pisonem 1516 konnte also unter Umständen bei der Identifizierung der Vorlage für die übrigen Vorlesungsdrucke (darunter auch Pro Rege Deiotaro 1515), denen jeweils nur ein Text zugrunde liegt, hilfreich sein.
Für den Vorlesungsdruck kamen zwei Arten von Vorlagen in Frage: Entweder eine Handschrift oder ein früher Druck. Es schien in diesem Falle sinnvoll, zunächst frühe Drucke zu untersuchen. Die Suche nach und die Sichtung von Handschriften ist stets mit größerem Aufwand verbunden, und es gibt noch einen weiteren guten Grund, sich zuerst mit den Drucken zu befassen. Außer den Vorlesungsdrucken wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland praktisch keine Ausgaben antiker Autoren gedruckt. Stattdessen importierte man Drucke aus Italien,4 die sich in großer Zahl heute noch in deutschen Bibliotheken finden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Druck als Vorlage diente, war demnach recht groß. Eine einzige Ausgabe der Reden Ciceros aus dieser Zeit gibt es allerdings, die nicht in Italien, sondern in Paris gedruckt wurde. Sie ist ebenfalls mit einigen Exemplaren in deutschen Bibliotheken vertreten. Zum Textvergleich boten sich also folgende Drucke an:
GW 6763 | M.T.Cicero, Orationes. Venedig: Johannes de Gregoriis und Jacobus Britannicus, 8. November 1483. 2º. – 252 Bl. |
GW 6764 | M.T.Cicero, Orationes. [Bologna: Drucker des Barbatius Johannina (H2429), um 1475]. 2º. – 278 Bl. |
GW 6768 | M.T.Cicero, Orationes. Venedig: Philippus Pincius, 1493. 2º. – 128 Bl. |
GW 6770 | M.T.Cicero, Orationes. Hrsg.: Lodovico Carbone de Costacciaro. Venedig: Bartholomaeus de Zanis, P. 1: 13. April 1499, P. 2: 14. Mai 1499. 2º. – P. 1: 124 Bl. – P. 2: 50 Bl. |
GW 6771 | M.T.Cicero, Orationes. Hrsg.: Filippo Beroaldo. Enth. außerdem: Janus Cardo Bononiensis: Ciceronis adversus Valerium oratio. Bologna: Benedictus Hectoris Faelli, 13. April 1499. 2º. – 271 Bl. |
GW 6772 | M.T.Cicero, Orationes. Hrsg.: Iunianus Maius. Neapel: Mathias Moravus, 17. November 1480. 2º. – 108 Bl. |
— | Orationes M.T.Ciceronis premisso indice, et de petitione consulatus ad Q. Fratrem parenesi. Paris: Johannes Parvus und Jodocus Badius Ascensius, 1511. – CCLXII Bl. |
Dabei fand zunächst ein Vergleich der ersten 2 Seiten des Vorlesungsdruckes 1515 und zusätzlich einiger auffälliger Stellen5 im weiteren Verlauf des Textes mit dem Text der zu untersuchenden Drucke statt. Eine genauere Untersuchung Wort für Wort sollte den Texten vorbehalten bleiben, die nach dieser ersten Untersuchung als Vorlage nicht schon ausgeschlossen werden konnten.
Glücklicherweise konnte ich von den oben genannten Drucken sehr rasch und mit einiger Sicherheit einen als Druckvorlage für Pro Rege Deiotaro 1515 bestimmen: Es dürfte sich um die Inkunabel GW 6763 handeln. Schon der erste Blick auf den Text dieses Druckes ließ einen Zusammenhang ahnen: Durch die Transkription der Annotationen vertraut mit dem Druckbild des Vorlesungsdruckes, fiel mir die Orientierung im Text wesentlich leichter als bei den meisten anderen Drucken, die ich bis dahin schon betrachtet hatte, weil die Groß- und Kleinschreibung und der Einsatz der Abbreviaturen in GW 6763 offenbar sehr ähnlich geregelt sind wie im Vorlesungsdruck.
Lediglich der Frühdruck Parvus/Badius 1511 zeigt auch eine große Zahl an Übereinstimmungen im Text der Rede Pro Rege Deiotaro, d. h. er weist weitgehend die gleichen Eigenheiten auf, aber eben nicht alle. Dennoch kamen zunächst beide Drucke als Vorlage in Frage, da auch der Text der Rede In Pisonem in beiden Drucken dem des Haupttextes im Vorlesungsdruck entspricht.6
Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Es gibt einige Fälle, in denen die Wortstellung im Vorlesungsdruck anders ist als in anderen Drucken. Dieselben Varianten weisen auch GW 6763 und Parvus/Badius 1511 auf:
Par. | GW 6763 u. Parvus/Badius 1511 | andere Drucke |
(entspr. Pro Rege Deiotaro 1515) | ||
1 | Regem reum capitis esse | Regem capitis reum esse |
3 | ueram uocem elicere | elicere ueram uocem |
28 | Imitari potius Castor | Imitari Castor potius |
28 | aetate exacta | exacta aetate |
34 | Solus inquam es | Solus es inquam |
Weitere Anhaltspunkte bieten Stellen, an denen ein Wort anders lautet. GW 6763 und Parvus/Badius 1511 haben in § 30 der Rede z. B. familiam abiectam, die anderen Drucke familiam deiectam. Der Vorlesungsdruck folgt hierin der erstgenannten Version.
Zudem finden sich viele Druckfehler in Pro Rege Deiotaro 1515, die ebenfalls in GW 6763 und teilweise in Parvus/Badius 1511 stehen. Im Vorlesungsdruck kommt dreimal eine Vertauschung von e und l im Namen Blesamius vor, so dass also an diesen Stellen (§§ 38, 41 und 42) jeweils eine Form von Belsamius zu lesen ist, während vorher der Name dreimal (richtig) als Blesamius abgedruckt ist (§ 33 zweimal; § 34). GW 6763 hat zwar in § 38 Blesamio, in § 42 jedoch und kurz vorher (§ 41) sogar Balsamius. Im Text des Druckes Parvus/Badius 1511 finden wir den Namen nur in § 33 in seiner eigentlichen Form, ansonsten begegnen uns Formen von Belsamius, wobei hier – und dabei handelt es sich um einen Hinweis, der vielleicht für die gesamte Textseite gilt, obwohl er sich räumlich und der Form nach auf § 34 zu beziehen scheint – in einer Randnotiz vermerkt ist: Alii blesamio.7 Man darf durchaus annehmen, dass ein solcher Druckfehler in der Vorlage auf den Text eines Nachdruckes Einfluss hatte. In den anderen von mir untersuchten Drucken findet sich dieser Fehler übrigens nicht.
Während die hyperkorrekte Schreibweise hos8 für os nicht ausschließlich in GW 6763 vorkommt, lesen wir an dieser Stelle dort wie auch in Parvus/Badius 15119 den Text cum hos videbam e t verba audiebam, der auch im Vorlesungsdruck steht, in den anderen frühen Drucken aber cum hos videbam c u m verba audiebam.10
Bis zu diesem Punkt der Untersuchung kamen noch beide der hier vorgestellten Drucke als Vorlage in Frage. Zwei Besonderheiten in GW 6763 bewirken jedoch, dass Parvus/Badius 1511 als Vorlage definitiv ausscheidet, indem sie GW 6763 als solche belegen. Denn nur diese Inkunabel weist einen Fehler auf, der offenbar eine Druckvariante11 im Vorlesungsdruck 1515 verursacht hat: Dort steht in manchen Exemplaren auf der Seite A3r Neque enim i l l o odio tui progressus statt Neque enim i l l e odio tui progressus. Nun findet sich illo eben auch in GW 6763, wohingegen die übrigen Drucke, auch Parvus/Badius 1511, ille haben.
Den entscheidenden Anhaltspunkt liefert schließlich ein auf den ersten Blick unbedeutend erscheinender Druckfehler auf A2v im Vorlesungsdruck12, nämlich mea aspectat oratio statt mea spectat oratio. Man könnte diesen Fehler natürlich schlicht als Versehen des Setzers erklären. Das Druckbild in ↗ GW 6763 (Pro Rege Deiotaro, R7r, Z. 26/27) bietet allerdings die Möglichkeit einer ganz anderen Erklärung: Dort wurde am Zeilenumbruch falsch getrennt, also me aspectat statt mea spectat. Wer hier korrigierend eingriff, konnte vermuten, dass aspectat gewollt war und lediglich bei mea das a vergessen wurde. Vielleicht war in der Druckvorlage die Stelle auch schon handschriftlich korrigiert, also ein a an die Zeile angefügt worden, ohne dass allerdings aspectat eine Berichtigung erfahren hätte, wodurch das Wort dann unverändert in den Text übernommen wurde.
Alle diese Beobachtungen zusammengenommen – wenn auch einige davon einzeln als Beweis zu schwach sein mögen –, besonders aber die zuletzt beschriebene, zeigen deutlich, dass GW 6763 die Vorlage für Pro Rege Deiotaro 1515 und vermutlich auch die anderen von Aubanus in Auftrag gegebenen Vorlesungsdrucke gewesen ist. Obgleich der Druck Parvus/Badius 1511 ansonsten ähnlich gut mit dem Vorlesungsdruck übereinstimmt, lassen sich die entscheidenden Besonderheiten dort nicht feststellen.13 Damit ist die Druckvorlage für Pro Rege Deiotaro 1515 identifiziert, und die Suche nach weiteren Drucken und Handschriften, die als Vorlage in Frage kämen, erübrigt sich.
Die Frage, welcher Text als Vorlage für den Vorlesungsdruck 1518 gedient hat, ist relativ leicht zu beantworten: Man muss gewiss davon ausgehen, dass es der von 1515 war, nicht nur, weil es naheliegt, dass man sich im Hause Lotter an einem Druck orientierte, der in der eigenen Druckerei hergestellt worden war, das gleiche Format hatte und den gleichen Text enthielt. Die Verteilung des Textes auf die Seiten, ja bis auf wenige Ausnahmen14 sogar auf die Zeilen ist in Pro Rege Deiotaro 1518 in gleicher Weise erfolgt wie in dem älteren Druck, wobei auch die Worttrennungen übernommen wurden. Die Korrektur der in der Vorlesung von Aubanus verbesserten Fehler wäre zwar auch erklärbar, wenn man eine andere Vorlage annähme15, aber einige Besonderheiten im Text bleiben, beispielsweise die Wortstellung an den oben16 genannten Stellen und die Wortwahl: beides entspricht immer noch GW 6763. Daher ist die Verwendung einer anderen Vorlage recht unwahrscheinlich.
Für diesen Druck gilt das gleiche wie für den Druck 1518. Auch er wurde bei Melchior Lotter gedruckt, und so ist es wahrscheinlich, dass einer der älteren Vorlesungsdrucke als Vorlage diente. Es ist hier nicht wirklich zu beweisen, denn der Druck unterscheidet sich von den anderen im Format, so dass sich gar keine genauen Übereinstimmungen der Zeilen ergeben konnten. Die Verbindung zu den anderen beiden Drucken ist allerdings durchaus zu sehen: Groß- und Kleinschreibung sind in diesem Druck genauso geregelt wie in den älteren, die Zeichensetzung entspricht mehr der im Druck von 1518. Auch an den Stellen, wo die Drucke von 1515 und 1518 voneinander abweichen, entspricht der Text dem Druck von 1518, so dass dieser vermutlich dem Druck von 1520 als Vorlage gedient hat.
Wie bereits angedeutet,17 weist der Vorlesungsdruck von 1515 auf der Seite A3r eine Variante auf: In manchen Exemplaren (B, G, M, N, R, S, W und Z) steht 5, 2 illo, in den übrigen (A, C, H, P, Q und U) ille. Die Schreiber der Exemplare, in denen illo steht, haben das Wort alle zu ille verbessert, die meisten direkt im Druck. Nur in Exemplar B ist diese Korrektur implizit erfolgt: Der Annotator hat das Wort mit Deiotarus glossiert, was sich natürlich auf die Form ille beziehen muss. Stephan Roth (Exemplar Z) hat nicht den gedruckten Text retuschiert, sondern mit Worten korrigiert, indem er anmerkt, dass Aubanus an dieser Stelle den Text ille lese (ille legit). Die Vorlage (GW 6763) hat illo, weshalb die Vermutung naheliegt, dass diese Variante zuerst in den Text gelangte und später gezielt korrigiert wurde.
Zumindest scheint eine gezielte Korrektur am plausibelsten. In der Umgebung dieser Zeile und in der Zeile selbst stellen sich alle Buchstaben gleich dar, sogar die verrutschten und das beschädigt wirkende e in 5, 7 sed. Wäre bei der Drucklegung ein Missgeschick passiert, das erfordert hätte, die Seite oder einen Teil davon neu zu setzen (wobei dann die Korrektur natürlich als sekundäre Maßnahme zu betrachten wäre), dürfte man sicherlich keine derart genaue Übereinstimmung des Druckbildes erwarten.18
Der einzige Unterschied, abgesehen von dem korrigierten Wort, ist die Vergrößerung des Abstandes zwischen 5, 7 sed und 5, 8 errore, die vielleicht auch deshalb möglich wurde, weil im Zuge der Korrektur der Abstand zwischen ille und odio gegenüber dem zwischen illo und odio offenbar etwas verringert wurde.
Das Vorhandensein einer solchen Druckvariante ist, wenn auch interessant und nicht ganz alltäglich, so doch nichts, was prinzipiell von großer Bedeutung für Aubanus’ Vorlesung wäre. Besonders wird die Situation aber dadurch, dass von allen uns erhaltenen Exemplaren dieses Vorlesungsdruckes diejenigen, von denen man überhaupt vermuten könnte, dass sie mindestens teilweise direkte Mitschriften sind, ausnahmslos der Gruppe angehören, die illo im Text hat. Das soll nicht heißen, dass sich nicht auch Abschriften in dieser Gruppe befänden, aber es bedeutet, dass in der anderen Gruppe, d. h. der mit ille im Text, ausschließlich Abschriften zu finden sind.
Das kann natürlich Zufall sein, es wäre jedoch auch folgendes denkbar: Da viele Nachschriften erhalten sind, in die alle Glossen offenbar mit System und mit sehr großer Sorgfalt eingetragen wurden, ist es möglich, dass manche Studenten damals zwei Exemplare des Druckes erwarben, um eine Reinschrift der Vorlesung anzufertigen.19 Wenn diese Vermutung stimmt, könnte das bedeuten, dass ggf. zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Vorlesungsdrucke verkauft wurden, in denen der Fehler eben korrigiert war. Unklar ist dabei, ob aufgrund der Nachfrage Exemplare nachgedruckt werden mussten oder ob es ohnehin einen großen Überschuss gab, der so noch Verwendung fand. In diesem Fall lagen die Exemplare mit illo im Text vielleicht einfach oben auf dem Stapel oder in der ersten Kiste, die Aubanus öffnete, und wurden zufällig zuerst verkauft. Die Abschriften in der illo-Gruppe ließen sich dadurch erklären, dass vielleicht auch ein solches Exemplar noch übrig war oder ein zu Beginn der Vorlesung erworbener Druck erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Annotationen versehen wurde – im Falle des Exemplars S beispielsweise ist das evident: Friedrich Frosch erwarb den Druck, schrieb aber selbst außer seinem Namen nie etwas hinein und hat das Exemplar später an den Annotator weitergegeben oder -verkauft.
Ein wenig rätselhaft bleibt allerdings, ganz unabhängig davon, wann die Fehlerkorrektur im Druck stattfand, warum, wenn schon die Korrektur dieses einen Fehlers erfolgte, nicht im gesamten Druck auch weitere Fehler korrigiert wurden, wie es offenbar bei der Drucklegung in 1518 geschah.
Dass aufgrund der vielen Übereinstimmungen in der Gestalt sogar der einzelnen Zeilen der Vorlesungsdruck 1518 sicher den von 1515 als Vorlage hatte, wurde bereits oben gesagt. Nun sollen diese Übereinstimmungen und auch die wenigen vorhandenen Unterschiede näher betrachtet werden.
Es ist leicht zu sehen, dass sich die Zeilen im ersten Absatz der Rede fast Buchstabe für Buchstabe entsprechen. Es wurden lediglich an manchen Stellen andere Entscheidungen bezüglich der Abbreviaturen getroffen: Im 1518er Druck (z. B. ↗ Exemplar O) lesen wir in Z. 2 etwa videt̃ statt videtur, dafür aber vsus statt vsو. Das ist jedoch nicht die einzige Art von Veränderung, die sich beobachten lässt. Zeile 3 im 1515er Druck (z. B. ↗ Exemplar U) zeigt ein Trennzeichen am Ende der Zeile, welches im 1518er Druck nicht mehr vorhanden ist. Zudem sind einige Interpunktionszeichen verändert, wie der Punkt nach C in Z. 1 (1515), der 1518 als Komma umgesetzt wurde, oder sie sind neu hinzugekommen, wie etwa das Komma in Z. 2 nach vehementius.
All diese Abweichungen sind freilich als gering anzusehen, da sie am Text nicht wirklich etwas ändern. Das trifft auf die Korrekturen, die gegenüber dem ursprünglichen Vorlesungsdruck vorgenommen wurden, schon weniger zu. Einige Änderungen sind nicht als Korrekturen anzusehen, sondern eher als neue Fehler. Sie sind von den Annotatoren entsprechend behandelt worden. Hier eine Übersicht über alle signifikanten Abweichungen:
Seite | Stelle | 1515 | 1518 | Bemerkungen |
---|---|---|---|---|
A2r | 18, 5 | hos | os | 1515 in der Vorlesung korrigiert |
A2v | 2, 8 | aspectat | spectat | 1515 in der Vorlesung korrigiert |
10–12 | abweichende Verteilung der Wörter | |||
22, 12 – 23, 1 | in in | in te | abweichende Verteilung der Wörter | |
A3r | 5, 2 | illo | ille | 1515 in der Vorlesung korrigiert |
A3v | 1, 7 | dedicisset | didicisset | 1515 in der Vorlesung korrigiert |
4, 6 | errore | errori | ||
5, 8 – 8, 1 | abweichende Verteilung der Wörter | |||
12, 13 | perrculo | periculo | Druckfehler; in der Vorlesung korrigiert | |
14, 1 | interfecere | interficere | ||
23, 10 | clarissimo | charissimo | ||
26, 3 | quis | qui | ||
A4r | 8, 7 | legatus | legatis | |
18, 12 – 19, 1 | voluit | noluit | ||
24, 4–5 | ; | ? | ||
A4v | 1, 4 | . | ? | in Exemplar C (1515) korrigiert |
B1r | 3, 1 | credo | (credo) | 1515 tw. ergänzt |
B2r | 6, 5 | Tribunum | Tribunus | 1515 korrigiert |
B2v | 5, 1 | vnquam | numquam | 1515 geändert |
11, 10 | mulctatum | mutatum | in Exemplar L u. T (beide 1518) korrigiert | |
11, 11 | arbitratur | arbitramur | 1518 korrigiert | |
32, 6 | iisque | iique | 1515 geändert | |
B3r | 11, 3 | coiunxit | coniunxit | — |
28, 9 | Belsamius | Blesamius | in C, P u. Z (1515) korrigiert | |
31, 6 | Belsamio | Blesamio | in C, P u. Z (1515) korrigiert |
Bereits oberflächliche Betrachtungen ergaben, dass in allen Vorlesungsdrucken dem eigentlichen Text ein an die Vorlesungsbesucher gerichtetes Epigramm vorangestellt ist, in dem die Vorzüge der Beschäftigung mit antiker (lateinischer) Literatur im Allgemeinen und der Auseinandersetzung mit der Redekunst im Besonderen gepriesen werden. Das Epigramm für den 1515er Druck wurde von Hermann Tulichius verfasst und später auch mit lediglich einer kleinen Änderung in den 1518er Druck übernommen. Im sechsten Distichon (V. 11/12) Prisca tamen grato renitescunt lumine verba, / Si penitus longa non periere mora wurde der zweite Teil ausgetauscht gegen Si modo sint raris et quasi nata locis (… , wenn sie nur von erlesenen Plätzen kommen und gleichsam dort entstanden sind). Ob wieder Hermann Tulichius an der Herausgabe des Druckes beteiligt war, ob er also die Änderung entweder von sich aus vornahm oder vielleicht darum gebeten wurde oder ob jemand anders die Zeile austauschte, wissen wir nicht. Pro Rege Deiotaro 1520 enthält ein kürzeres Epigramm, welches Johannes Arnoldus Bergellanus verfasste. Die Epigramme stehen in all diesen Drucken auf der ersten Seite (A1r).
Vielen Drucken sind außerdem Briefe in der Regel des jeweiligen Dozenten entweder an seine Studenten oder aber an wichtige Persönlichkeiten beigegeben. In den hier behandelten Vorlesungsdrucken begegnet uns beides: Ganz am Ende des 1515er Druckes steht ein Brief des Aubanus an seine Leser. Dieser Brief ist sehr persönlich und, das ist eindeutig, speziell an die Gruppe der Vorlesungsbesucher gerichtet. Lyranus ließ diesen 1518 durch einen Widmungsbrief an seinen Lehrer Aesticampianus ersetzen. Dieser Brief wurde zwischen das Epigramm und den Text gesetzt (Seite A1v). An seine Leser, also die Besucher seiner Vorlesung, wandte Lyranus sich dennoch in einem kurzen Epigramm, das sich direkt an den Brief anschließt. Pro Rege Deiotaro 1520 enthält überhaupt keinen Widmungsbrief.
Da wir aus diesen Epigrammen und Briefen einige Informationen über die Verfasser und Adressaten erhalten, von denen später noch die Rede sein wird, sind im folgenden alle Texte mit Übersetzung aufgeführt. Es sei darauf hingewiesen, dass die Texte jeweils ohne Veränderung aus den Drucken übernommen sind, d. h. die Orthographie und Interpunktion entsprechen nicht immer heute geltenden Konventionen.
1 M. Gregorius Coell. Aubanus Lectori S. D.
1 Der Magister Gregor Koel aus Aub grüßt seinen Leser.
2 Hanc mihi consuetudinem iam fere biennium fuisse, lector Candidissi. non ignoras, vt preter eas lectiones, quas ex Quintiliani aliorumque institutionibus semper optimas tibi pro festis negotiosisque diebus legeram, aliam quandam sacris quoque diebus: cum et diuinis rebus et otio tuo satisfecisses: quasi corollarium quoddam adiungerem, Ne per tempus omne: rem (vt Antiphon voluit) omnium in humanis carissimam: cessares et nihil plane ageres.
2 Du weißt sehr wohl, hochverehrter Leser, dass ich nunmehr seit fast zwei Jahren die Gewohnheit hatte, außer den Vorlesungen, die ich Dir aus den Unterrichtswerken Quintilians und anderer Leute an den Werktagen gehalten hatte, eine andere auch an den Feiertagen, wenn Du Deine religiösen Pflichten erfüllt hattest und Deinen Freizeitbeschäftigungen nachgegangen warst, als eine Art Zugabe anzuschließen, damit Du nicht über die ganze Zeit die Sache, die (wie Antiphon wollte) unter den menschlichen Dingen von allen die teuerste ist,32 ruhen lässt und einfach nichts treibst.
3 Id quod potissimum in selectissimis quibusdam M. Tullii Ciceronis orationibus fecisse me semper, non es nescius, Extra quam: quod priori aestate, cum tibi non infrequenti gratificaturus, carminum artem et breuem et non: vt spero: inutilem tradidi, quo in vtriusque orationis facultate, si te non vsque adeo praestantem, at certe non plane rudem discipulum atque imperitum haberem.
3 Du weißt ja auch, dass ich das hauptsächlich immer an bestimmten besonders erlesenen Reden des M. Tullius Cicero gemacht habe, außer dass ich im vergangenen Sommer, da ich Dir ob Deiner regen Beteiligung zu Gefallen sein wollte, eine kurze wie auch – so hoffe ich – nützliche Poetikvorlesung33 gehalten habe, um in der Kunst, sich auf beide34 Arten auszudrücken, Dich als, wenn vielleicht noch nicht ganz herausragenden, so doch sicher nicht schlichtweg ungebildeten und unerfahrenen Schüler zu haben.
4 Cum vero, et in hac non parum foelicem (vt ex quorundam exercitationibus cognoui) fructum te facere, atque ad istas ipsas orationes, vt vnicum atque locupletissimum studii tui quantulicunque thesaurum: sepenumero respicere, et (amantium more) frequenter suspirare animaduerterem, contineri diutius, vel in maximis meis perpetuisque laboribus non potui, quin nouam ex eodem Auctore orationem meis impensis imprimendam procurarem, qua vt stimulo, currentem te adigerem, et iam inde ab initio earundem orationum studio quodam tenus ardentem, nouo velut igne, totum inflammarem atque incenderem.
4 Als ich aber bemerkte, dass Du darin in nicht geringem Maße reichen Gewinn machtest (wie ich aus den Übungen gewisser Leute erkannte) wie auch dass Du auf gerade diese Reden wie auf einen einzigartigen und überaus reichen Schatz Deines Studiums, wie wenig er vielleicht auch wert sein mag,35 oft zurückblicktest und (nach Art der Verliebten) oft aufseufztest, da konnte ich mich, selbst bei meiner außerordentlich großen und beständigen Arbeitsbelastung, nicht länger zurückhalten, auf meine Kosten den Druck einer neuen Rede von demselben Autor zu besorgen, durch die ich Dich wie mit einem Stachel im Lauf antreiben und Dich, der Du gleich von Anfang an bis zu einem gewissen Punkt vor Begeisterung für dieselben Reden glühtest, gleichsam mit einem neuen Feuer anstecken und entzünden könnte.
5 Id quod cum tuo et studio et diligentia: tum mea me opera: labore: sedulitate et fide assequuturum non dubitanter spero.
5 Dass ich das sowohl mit Deinem Eifer und Deiner Sorgfalt als auch durch meine Bemühung, Arbeit, Emsigkeit und Zuverlässigkeit erreichen werde, erwarte ich ganz ohne Zweifel.
6 Vale, et Aubanum inter eruditionis politioris interpretes, vt infimum, ita forsan non indiligentissimum doctorem: vt soles amplectere.
6 Lebwohl, und nimm Aubanus unter den Vermittlern der höheren Bildung wie vielleicht als geringsten, so doch, wie Du es ja auch zu tun pflegst, gerade nicht als den ungewissenhaftesten Lehrer an.
7 Datum ex Aubaneo.
1 Integerrimo ac prestantissimo viro domino Joanni Rhagio Aesticampiano diuinarum literarum interpreti accuratissimo Rhetori ac poete laureato, preceptori suo eloquentissimo. Magister Laurentius Lyranus Cotbusius.S.
1 Dem untadeligsten und hervorragendsten Manne, Herrn Johannes Rak aus Sommerfeld, dem Vermittler der göttlichen Wissenschaften, dem sorgfältigsten Rhetor und Poeta laureatus, seinem überaus redegewandten Lehrer, entbietet Magister Laurentius Lyranus aus Cottbus seinen Gruß.
2 Cum nuper cogitarem: preceptor humanissime: qua ratione, quo uitae modo canicularium dierum tempestatem, uel commode, uel plurimorum utilitate traducerem, uenit in mentem mihi, non insolens aut inepta Stoicorum sententia, homines uidelicet hominum causa esse natos, ut ipsi inter sese, alii aliis prodesse possent. Platonis praeterea sententiae tum eram haud immemor, qui ait, Non solum nobis nati sumus etc.
2 Als ich neulich darüber nachdachte, o Du gebildetster Lehrer, auf welche Art, mit welcher Lebensweise ich die Zeit der Hundstage sowohl angenehm als auch im Nutzen für die meisten Leute verbringen könnte, da kam mir dieser gar nicht unmäßige und gar nicht unpassende Satz der Stoiker in den Sinn, nämlich dass Menschen um der Menschen willen auf der Welt sind, um selbst untereinander, also die einen den anderen nützen zu können. Ich war da außerdem auch des Ausspruches Platons38 nicht uneingedenk, der sagt: Nicht allein für uns sind wir auf der Welt, usw.
3 Id porro fieri a me posse (nisi tua humanissima eruditione edoctus) non confiderem. Ostendisti etenim satis superque signa et notas optimarum disciplinarum certissimas, quibus benedicendi thesaurus iampridem subfossus (nisi nos adeo inertiae dediti essemus) studio et labore adhibito, facile erui posset.
3 Ferner hätte ich (wenn ich nicht durch die Schule deiner überaus feinen Bildung gegangen wäre) wohl nicht geglaubt, dass das von mir bewerkstelligt werden könne. Du hast nämlich mehr als genug die sichersten Kennzeichen und Merkmale der besten Lehren aufgezeigt, mit deren Hilfe der Schatz des guten Redens, der schon lange vergraben war, sich (sofern wir nicht so sehr der Untätigkeit hingegeben wären), wenn man Eifer und Arbeitskraft aufbringe, leicht ausgraben ließe.
4 Sed prochdolor quotus quisque est, qui benedicendi uim amet? quique pro hac frugi arte assequenda, ullis uiribus conetur? omnes ferme ignauiae student, barbariem a teneris epotam, cupide adhuc indies magis atque magis hauriunt.
4 Aber ach! wie wenige sind es, die die machtvolle Wirkung des guten Redens lieben? und die für das Begreifen dieser rechtschaffenen Kunst auch nur irgendwelche Kraftanstrengungen unternehmen? Fast alle streben nach Untätigkeit. Die Unkultur, schon mit der Muttermilch eingesogen, verschlingen sie bis jetzt noch gierig, täglich mehr und mehr.
5 Tuae uero eruditionis palestra, semper talis extitit, ut ex ea perinde ac ex Isocratis officina innumeri discipuli et facundissimi prodirent. Tua nempe disciplina sola hoc effecit, ut qui antea in angulis mussitare solebam, in publicum nunc prodire ausus sim. Fretus itaque praeceptor obseruandissime tua singulari eruditione atque benedicendi copia uberrima, qua me equidem plurimum adiutum, et ingenue fateor, et palam profiteor.
5 Der Trainingsplatz Deines Unterrichts aber war immer derart, dass aus ihm ebenso wie aus der Wirkungsstätte des Isokrates unzählige und sehr redegewandte Schüler hervorgingen. Denn Deine Lehre allein hat vollbracht, dass ich, der ich vorher in den Winkeln zu flüstern pflegte, jetzt in die Öffentlichkeit zu treten gewagt habe. Im festen Vertrauen, verehrtester Lehrer, auf Deine einzigartige Bildung und die äußerst reiche Fülle des guten Redens, durch die mir jedenfalls im höchsten Maße geholfen wurde, bekunde ich es aufrichtig und bezeuge es öffentlich.
6 Ne igitur hoc praefati temporis interuallo, uel ocio marcerem, uel prorsus me desidiae turpiter et foede dederem, decreui exercitationis gratia aliquid in medium afferre. quod ex te quasi singulare quiddam audierim, quod exactam eloquendi peritiam demonstraret.
6 Um also in dieser oben genannten Zeitspanne weder vor Muße schlaff zu sein noch mich weiter dem Faulenzen in schimpflicher und schändlicher Weise hinzugeben, habe ich beschlossen, um der Übung willen etwas zu veröffentlichen, das ich von Dir gleichsam als etwas Einzigartiges gehört habe, das Deine vollendete Erfahrung in der Beredsamkeit zeigte.
7 Quamobrem hanc M. Tull, Romani eloquii patris oratiunculam, non minus disertam, quam sententiis luculentissimis refertam, probatae indolis iuuentuti explanare constitui. quam quidem perspexi haud dubie fore, tibi ornamento ac laudi, iuuentuti magno commodo, et mihi usui quammaximo.
7 Deshalb habe ich beschlossen, diese kurze Rede des Marcus Tullius, des Vaters der römischen Beredsamkeit, die nicht weniger wohlgeordnet als voll von illustren Sentenzen ist, für die jungen Leute von trefflicher Begabung zu erklären. Sie wird, das weiß ich, ohne allen Zweifel Dir zu Schmuck und Lob, den jungen Leuten sehr zum Vorteil und mir zum größtmöglichen Nutzen gereichen.
8 Vale. Datum Vuittenbergae. Anno a reconciliata diuinitate, decimooctauo supra sesquimillesimum.decimoseptimo Ca: Iulii.
8 Lebwohl. Wittenberg, den 15. Juni 1518.